Am Meeresboden

„Hoffentlich sind wir rechtzeitig zurück und können den Kindern beim Öffnen der Advents-Socke zusehen“, sagt Nepomuk ganz außer Atem. „Die Wunschzettel der Kinder werden aber auch immer länger und die Wünsche immer größer“, stöhnt Heinzi. „Früher hatten die Kinder einen Herzenswunsch und haben sich so sehr gefreut, wenn sie ihn dann erfüllt bekommen haben“, erinnert sich Nepomuk. „Aber mittlerweile steht ja schon auf einem einzigen Wunschzettel eine große Lego-Eisenbahn, viele Lego-Häuser, eine Carrera-Bahn, dazu noch viele Kuscheltiere und noch viel mehr. Bei den Mädchen ein Barbie-Haus, ganz viel Barbie-Zubehör, Puppen, Schminksachen und und und. Wenn der Weihnachtsmann sich dann für ein oder zwei Sachen entscheidet, weiß er immer noch nicht, ob die Kinder damit zufrieden sind und sich freuen. Weihnachten wird immer schwieriger für uns!“ „Umso mehr freue ich mich, wenn wir jetzt zu Marco, Lukas und Ida gehen. Die drei erkennen denn Sinn der Weihnachtszeit – wobei ja auch deren Wunschzettel ziemlich groß ausfällt“, sagt Heinzi. „Aber nach deren Abenteuer-Reise durch die Adventszeit werden die drei sich auf jeden Fall an ihrem Geschenk erfreuen. Da bin ich mir sicher“, erwidert Nepomuk. Die beiden Weihnachtswichtel haben das Haus erreicht und klettern durch das angelehnte Fenster. Sie verstecken sich in ihrer Ecke des Spielzimmers. Gerade noch rechtzeitig, denn Marco, Lukas und Ida sind bereits auf der Treppe nach oben.

Ida bleibt vor der Tür stehen, legt den Zeigefinger auf ihren Mund und flüstert: „Psst, seid mal ganz leise. Vielleicht hören wir das Glöckchen jetzt schon läuten.“ Marco und Lukas sehen sich verständnislos an. „Warum sollte das Glöckchen denn läuten? Wir sind doch noch gar nicht im Zimmer“, möchte Marco daher wissen. „Der Weihnachtszauber. Oder glaubt ihr immer noch, das die Söckchen sich von alleine füllen?“, fragt Ida. Die drei bleiben ruhig vor der Tür stehen, aber hören können sie nichts. „Darf ich jetzt endlich die Tür öffnen?“, will Lukas wissen. „Ich möchte nämlich endlich in mein Söckchen rein schauen.“ Ida nickt und Lukas öffnet die Tür. Nun ist auch das vierte Advents-Söckchen mit einer Schleife zugebunden und es hängt eine Glocke an der Sockenspitze. Lukas geht zielstrebig auf den Adventskalender zu und löst die rote Schleife. Dann greift er in das Söckchen und zieht ein kleines, grünes Päckchen heraus. Vorsichtig wickelt Lukas das Papier ab, während Marco und Ida gespannt zusehen. Die Augen von Lukas werden groß und ihm bleibt der Mund offen stehen. „Was ist denn in dem Geschenk?“, will Marco wissen. „Es sieht aus, wie eine Eikapsel von einem Katzenhai. So wie die im Sea Life“, sagt Lukas ehrfürchtig. „Darf ich mal sehen?“, fragt Ida. Lukas reicht es ihr. „Das fühlt sich sehr hart an“, beschreibt Ida. „Wo diese Eikapsel wohl her kommt? Angeblich kann man die leeren Eikapseln mit ein wenig Glück am Ostseestrand finden“, erinnert sich Marco an seinen letzten Besuch im Sea Life. „Bisher haben wir leider noch keine gefunden“, sagt Lukas traurig.

Ida setzt sich mit der Eikapsel in der Hand auf die Kissen der Lese-Ecke, schaut vorher einmal in die Ecke der beiden Wichtel und sieht das neugierige Gesicht von Heinzi hinter der Kommode herausschauen. „Heinzi und Nepomuk sind genauso gespannt wie wir, auf das kommende Abenteuer“, denkt sie. Dann legt sie die linke Hand über die Eikapsel und spürt ziemlich schnell die Wärme, die sich auf ihrer Hand ausbreitet. Marco und Lukas haben sich ebenfalls schon hingesetzt und ihre Hände über die von Ida gelegt. „Das Gefühl, wie sich die Wärme des Gegenstandes in unseren Händen ausbreitet, verursacht ein richtiges Kribbeln in meinem Bauch“, sagt Lukas leise. „Das nennt man dann wohl Vorfreude auf das was kommt“, weiß Marco.

 

Durch den Glitzerstaub und die Wärme der Kinder auf der Eikapsel entsteht ein geballter Lichtstrahl. „ Marco wollte gerne wissen, wo diese Eikapsel her kommt – daher gehen die drei heute auf eine Entdeckungsreise“, freut sich Heinzi, während er den Lichtstrahl beobachtet. In der Mitte des Zimmers entsteht ein kleines Feuerwerk. Dadurch verändert sich das Zimmer: die Wände scheinen zu verschwinden und dafür entsteht ein unterirdischer „Wald aus Wasserpflanzen“ im Meer. Am Boden ist Sand, der durch die Bewegungen des Wassers Wellenlinien angenommen hat. Außerdem liegt weiter hinten ein altes Schiffswrack. Marco, Lukas und Ida sitzen in einem kleinen U-Boot, welches komplett aus Glas ist. Sie haben einen „Rundum-Blick“ und können alles sehen, was um sie herum passiert. Staunend schauen sie sich um. „Der Blick ist ja wie aus der Tauchgondel an der Seebrücke in Grömitz“, sagt Lukas. „Nur das man hier viel weiter sehen kann und wir scheinbar mitten im Meer sind und nicht in Strandnähe“, stellt Marco fest.

 

Plötzlich zuckt Ida zusammen. „Seht mal, da vorne! Da ist ein kleiner Hai! Er schwimmt direkt auf uns zu!“, schreit Ida ängstlich. „Das ist ein Katzenhai. Seht ihr die vielen dunklen Flecken auf der Oberseite des Hais? Für uns ist er aber ungefährlich. Erstens sitzen wir in einem U-Boot und zweitens frisst er nur Krebse, kleine Fische oder Weichtiere. Du brauchst also keine Angst zu haben, Ida“, weiß Lukas. „Der ist aber schon ganz schön groß. Mindestens 80cm“, staunt Marco. „Im Sea Life sahen die viel kleiner aus.“ „Der hier muss fast ausgewachsen sein. Katzenhaie werden doch höchstens einen Meter groß“, meint Lukas. „Der Hai schwimmt ganz schön dicht über dem Boden. Ob er etwas zu essen sucht?“, fragt Ida. „Er macht nicht den Eindruck, als würde er etwas zu fressen suchen“, meint Marco. „Seht mal, da vorne ist ein ganzer Fischschwarm! Und dort hinten auf dem Meeresgrund tanzen Krebschen. Der Katzenhai interessiert sich gar nicht für die anderen Tiere“, stellt Lukas fest. Nach einiger Zeit verschwindet der Katzenhai aus dem Blickfeld der Kinder. „Lass uns doch mal mit unserem U-Boot zu den Wasserpflanzen dort hinten fahren“, schlägt Marco vor und lenkt das U-Boot in die Richtung, in der vorhin noch der Katzenhai gewesen ist. Als sie über den Wasserpflanzen sind, entdeckt Ida es zuerst: „Seht mal! An den Pflanzen hängen Eikapseln! Der Katzenhai muss sie eben dort abgelegt haben!“ „Wow, mit den Schlingen der Eikapsel wird das Eigehäuse an den Pflanzen festgehalten! So haben die Eier einen natürlichen Schutz durch die Pflanzen, ohne das die Eltern auf ihre Eier aufpassen müssen. Das ist ja genial“, sagt Lukas. „Der Katzenhai muss während des Schwimmens die Eier gelegt haben“, murmelt Marco. Da taucht vor dem U-Boot ein weiterer Katzenhai auf. Auch er schwimmt so dicht über dem Meeresboden. Die Kinder schauen jetzt genau hin, was passiert. „Schaut mal. Hinten hängen bei dem Katzenhai bereits die Schlingen heraus. Jetzt müssen sie nur noch eine Pflanze oder einen Gegenstand finden, an dem sie sich festhalten können und schon werden die Eikapseln aus dem Weibchen gezogen! Das ist ja richtig genial. Dadurch wird von der Natur aus verhindert, dass die Eikapseln frei im Meer herum schwimmen“, beobachtet Lukas. Und genau in diesem Moment hat sich die Schlinge an einem länglichen Stein festgeharkt und bleibt dort hängen. Das Weibchen legt noch mehr Eier und verschwindet dann auch von der Bildfläche. „Seht mal, da hinten! Selbst an dem Schiffswrack sind zahlreiche Eikapseln!“; ruft Ida erstaunt. „Tatsächlich! Hier scheint ein richtiges Nest für Katzenhaie zu sein“, meint Marco und fährt das U-Boot näher an die Stelle heran. „Die am Schiffswrack sind in ihrer Entwicklung schon viel weiter. Wenn das Licht unseres U-Bootes darauf strahlt, kann ich bereits einen Mini-Hai erkennen“, sagt Lukas aufgeregt. Die Kinder blicken sich weiter um. Ida fällt eine kleine Bewegung im Wasser auf. Sie schaut an die Kante des Schiffswracks, an dem auch zahlreiche Eikapseln hängen. Diese Eier sind bereits „ausgewachsen“ und haben eine Größe von etwa 6cm. Von einem Ei geht die Bewegung aus. „Ich glaube, dass da vorne tatsächlich ein Hai schlüpfen wird“, sagt sie fasziniert. „Ja, ich sehe auch eine Bewegung! An der Oberseite entsteht ein kleiner Riss“, sagt Lukas. „Ich sehe bereits die Spitze des Kopfes!“, ruft Marco begeistert. Schon schlüpft der Rest des kleinen Katzenhais aus dem Ei und schwimmt schnell in den schützenden Wasserpflanzen-Wald. Marco, Lukas und Ida schauen sich wortlos an. Ihre Gesichter glühen vor Aufregung. „Wir waren gerade tatsächlich bei einer echten Geburt dabei! Es ist ein neues Leben direkt vor unseren Augen in die große, weite Welt entschlüpft“, sagt Ida ganz verträumt. „Und da vorne löst sich die leere Eikapsel von dem Schiffswrack. Sie wird jetzt von den Wellen an den Strand gespült und mit ein wenig Glück findet sie dort jemand für seine Sammlung“, sagt Lukas.

 

Mit dem Verschwinden der leeren Eikapsel und des kleinen Katzenhais verschwindet auch das Meer wieder. Die drei Kinder stehen nebeneinander im Spielzimmer und schauen sich verblüfft an. „Jetzt wissen wir, wo die Eikapsel aus deinem Advents-Söckchen herkommt, Lukas. Und wir waren Zeuge einer echten Geburt!“, schwärmt Ida. „Unglaublich, das genau in dem Moment, wo wir im Meer waren, ein Katzenhai geschlüpft ist! Ich kann das gar nicht glauben“, sagt Lukas. „Das war wirklich ein absolut fantastisches Erlebnis. Wir waren bei dem Ursprung des Lebens dabei! Jeder von uns hat mal so klein angefangen, wie dieser Katzenhai. Aber ich habe es noch nie hautnah bei einem anderen Lebewesen gesehen“, sagt Ida. „Von unserer eigenen Geburt wissen wir ja alle gar nichts mehr. Wir können gar nicht so lange zurück denken. Und wir waren auch noch lange nicht so selbstständig, wie dieser kleine Hai heute. Er ist ganz alleine geschlüpft und ohne jede Hilfe in den sicheren Wasserpflanzen-Wald geschwommen. Er wird sich auch alleine ernähren müssen, um zu überleben“, meint Marco nachdenklich.

„Wir waren die ersten Monate und Jahre ganz stark auf die Hilfe von Mama und Papa angewiesen. Ohne die beiden hätten wir gar keine Chance gehabt. Die beiden haben ganz schön viel Zeit mit uns verbracht, damit es uns so gut geht“, sagt Lukas. „Jetzt kann ich sogar verstehen, dass Mama und Papa wenigstens in der Adventszeit mehr Zeit mit uns verbringen möchten. Immerhin sind wir mittlerweile so groß, dass wir gerne auch mal für uns sind und nicht mehr so sehr wie früher auf unsere Eltern angewiesen sind. Das macht die beiden vielleicht manchmal etwas traurig. Im Dezember ist es abends oft früh dunkel. Das wäre eine gute Gelegenheit mal wieder zusammen zu spielen oder gemeinsam am Adventskranz zu sitzen und sich beim Schein der Kerze etwas zu erzählen.“

 

„Das ist so schön mit den drei Kindern“, schwärmt Nepomuk. „Sie sehen oft einen Zusammenhang zwischen ihren Erlebnissen oder Erinnerungen zu ihrem jetzigen Leben. Manchmal sogar viel schneller als ich. Heute zum Beispiel wäre ich nicht auf den Zusammenhang gekommen“, gibt Heinzi zu. „Das war auch heute gar nicht so einfach“, sagt Nepomuk augenzwinkernd. „Ich wäre gerne mit den Kindern in einem U-Boot gewesen. Dann hätten wir vielleicht auch noch ein bisschen mehr gesehen als aus unserem Blickwinkel“, sagt Heinzi. „Noch ist es nicht so weit, Heinzi. Aber auch der Moment wird kommen. Da bin ich mir sicher“, entgegnet Nepomuk.

 

Lukas packt die Eikapsel von dem Katzenhai zurück in das Advents-Söckchen und lässt dabei die vier Glöckchen aufklingen. Ein kleines Glocken-Konzert in den hellsten Tönen erklingt und die Kinder lächeln sich erfreut an. „Diese magische Adventszeit wird die schönste in meinem ganzen Leben“, sagt Ida glücklich. Marco und Lukas nicken zustimmend. Dann verlassen die drei Kinder das Spielzimmer, wobei sich die Blicke von den beiden Wichteln und Ida noch einmal begegnen. Heinzi winkt dem Mädchen vorsichtig zu und lächelt dabei. Ida’s Herz macht einen Sprung, denn sie hat das Gefühl, das die Adventszeit in Kürze noch aufregender für sie wird.

 

Abends zündet Mama, wie jeden Abend, die Kerzen am Adventskranz an. Marco, Lukas und Ida setzen sich zu ihr an den Tisch. „Hast du Lust etwas mit uns zu spielen? Oder uns eine Geschichte vorzulesen?“, fragt Marco. Die Mama lächelt erfreut. „Sehr gerne. Was möchtet ihr denn lieber?“, fragt sie. „Ich würde am liebsten mein Fotobuch aus dem ersten Lebensjahr ansehen“, sagt Lukas. „Ich auch! Und du kannst uns noch mal von unseren Geburten erzählen. Denn leider können wir uns nicht daran erinnern“, sagt Ida. „Und die Geburt ist doch das wichtigste von uns gewesen – denn ohne die könnten wir ja jetzt gar nicht zusammen hier sitzen“, sagt Marco. Mama lächelt wieder. „Da habt ihr wirklich recht. Und ich schaue mir gerne die Fotos aus eurer Anfangszeit an. Das ist nämlich schon ganz lange her“, sagt sie ein wenig wehmütig. Die vier kuscheln sich gemütlich auf das Sofa und schauen sich der Reihe nach die Fotobücher der Kinder an. Als Papa von der Arbeit nach Hause kommt, freut er sich über den Anblick seiner Familie und setzt sich dazu. Lange sitzen die fünf zusammen, während Papa und Mama im Wechsel aus den Anfangszeiten der Kinder erzählen.

Nepomuk und Heinzi hören eine Zeit lang zu. Sie genießen es sehr, dass die Familie so viele schöne Erinnerungen hat und die Eltern diese ihren Kindern nun noch einmal auffrischen. „Diese Erinnerungen sind sehr wichtig für Menschen. Kinder merken dadurch, dass sie ihren Eltern viel bedeuten und das sie geliebt werden“, sagt Nepomuk. „Das kann man auch sehen, wenn man den drei Kindern ins Gesicht sieht. Sie lächeln alle glücklich!“, freut sich Heinzi. „Auch wenn es hier gerade so schön ist, müssen wir uns trotzdem wieder an die Arbeit begeben. Denn auch morgen möchten die Kinder ein besonderes Erlebnis haben“, erinnert Nepomuk sich an ihre Pflichten. Die beiden Wichtel machen sich auf den Weg zum Spielzimmer und bereiten das pink-lilane Advents-Söckchen für den nächsten Tag vor. Heinzi ist sehr müde von den letzten Tagen und streut sichtbar erschöpft den Glitzerstaub über das Päckchen. Nepomuk näht das Glöckchen an die Sockenspitze, wobei das wunderschöne Klingeln ertönt. „Für heute hat uns der Weihnachtsmann frei gegeben, damit wir uns gut ausruhen können, um morgen wieder für Marco, Lukas und Ida da zu sein“, freut sich Heinzi. Sie gehen in ihre Ecke im Spielzimmer und schlafen sehr schnell ein. Die beiden schlafen so tief, dass sie gar nicht bemerken, dass Ida noch einmal in das Spielzimmer kommt und die beiden mit ihrem Lieblingstaschentuch zudeckt. „Ihr zwei seid das Beste, was uns je passiert ist“, flüstert Ida leise. „In den letzten Tagen haben wir als Familie wirklich viele tolle Momente gehabt.“ Sie schaut die beiden Wichtel noch eine Weile im Schlaf an und sieht, das die beiden ein Lächeln im Gesicht haben – so als hätten sie Ida’s Worte gehört.

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