Die große Flut

Nepomuk und Heinzi liegen schon lange wach in ihrem Bettchen und denken über das Gespräch mit dem Weihnachtsmann nach. „Was meint der Weihnachtsmann wohl damit, dass die Erwachsenen Geschichten über Wichtel und ihn selbst für Fantasie-Geschichten halten?“, überlegt Heinzi. „Na, das sie nicht mehr an den Weihnachtsmann und uns glauben. Für sie ist Weihnachten zwar schön und spannend – vor allem, wenn sie Kinder haben. Aber an die Magie der Weihnachtszeit glauben die Erwachsenen nicht“, entgegnet Nepomuk. „Und du meinst, das sich das auch nicht ändern würde, wenn Felix, Lukas und Anna ihren Eltern von ihren Abenteuern mit uns erzählen?“, fragt Heinzi weiter. „Das kann ich dir leider auch nicht beantworten. Um wieder an uns zu glauben, müssten die Eltern uns wahrscheinlich kennenlernen. Und ich kenne keinen einzigen Weihnachts-Wichtel, der mit Erwachsenen in Kontakt war. Daher weiß ich nicht, ob das erlaubt ist“, überlegt Nepomuk. „Dann müssen wir wohl darauf warten, bis der Weihnachtsmann eine Antwort gefunden hat“, meint Heinzi.

Felix, Lukas und Anna sind ebenfalls schon wach. „Ich bin gespannt, ob wir Mama und Papa heute von unseren Erlebnissen erzählen dürfen“, sagt Lukas. „Ich auch. Nepomuk und Heinzi wollten ja den Weihnachtsmann persönlich fragen“, fügt Felix hinzu. „Ich muss sagen, dass ich alles einfach nur spannend finde. Heute kribbelt es schon in meinem Bauch, bevor ich Heinzi und Nepomuk sehen. Alleine die Vorstellung, dass unsere beiden Freunde Helfer vom Weihnachtsmann sind und ihn gestern noch gesehen haben, finde ich total aufregend!“, sagt Anna. So gehen die drei Kinder die Treppe zum Spielzimmer hoch.

 

Heinzi und Nepomuk warten bereits auf den Kissen in der Lese-Ecke auf ihre neuen Freunde. „Guten Morgen! Da seid ihr ja endlich. Wir konnten gar nicht mehr schlafen“, begrüßt Heinzi die Kinder. „Wie war euer Gespräch mit dem Weihnachtsmann?“, möchte Anna sofort wissen. „Der Weihnachtsmann hat sich gefreut, dass euch die Adventszeit so gut gefällt. Aber ob ihr eure Erfahrungen mit euren Eltern teilen könnt, konnte er nicht sagen. Manchmal wäre es gut, ein Geheimnis vor den Eltern zu bewahren. Zumal er sich nicht sicher ist, ob eure Eltern den Zauber der Weihnachtszeit ebenso erleben würden, wie ihr es tut“, sagt Nepomuk. „Darüber habe ich auch schon nachgedacht“, sagt Felix. „Immerhin ist es Lukas und mir anfangs auch schwer gefallen an die Magie der Weihnachtszeit zu glauben – ganz im Gegensatz zu Anna. Je jünger man ist, desto eher lässt man sich auf neue Abenteuer ein. Vor allem, wenn sie irgendwie so unwirklich sind, eher wie eine Traumwelt.“ „Je älter man wird, desto mehr setzt man auf logische Erklärungen. Und da gehört es leider nicht zu, dass es wirklich Wichtel und den Weihnachtsmann gibt. Weil die wenigsten einem von uns begegnet sind“, überlegt Heinzi. „Dann behalten wir unsere Erlebnisse mit euch erst einmal für uns. Dieses Geheimnis zu hüten, ist ja irgendwie auch ein ganz besonderer Zauber“, findet Lukas.

 

„Felix, dann öffne mal dein Advents-Söckchen. Ich bin schon gespannt, was wir heute erleben“, sagt Anna, während sie sich zu Heinzi, Nepomuk und Lukas auf die Kissen setzt. Felix geht zu seinem Söckchen. Dabei fällt ihm aber noch eine Frage ein, die er Heinzi und Nepomuk schon länger stellen wollte: „Warum füllt ihr eigentlich immer nur für den nächsten Tag die Advents-Söckchen? Habt ihr Angst, das wir vorher schon hinein schauen?“ „Anfangs hatten wir Bedenken, dass ihr auch in die nächsten Söckchen schauen würdet, wenn die bereits gefüllt wären. Aber mittlerweile wissen wir, dass ihr das nicht machen würdet. Ganz davon abgesehen, bekommen wir die Gegenstände selber erst abends vom Weihnachtsmann überreicht. Er entscheidet nach jedem Tag neu, was in die nächste Advents-Socke hineinkommt“, sagt Nepomuk. „Wow, das macht das ganze ja irgendwie noch magischer. Wenn der Weihnachtsmann sich jeden Tag neue Gedanken darüber macht, wie er uns eine Freude machen kann“, sagt Felix. Nun öffnet er sein gelb-orangenes Söckchen. „Das Päckchen ist heute sehr leicht“, beschreibt er. Nachdem Felix das Papier gelöst hat, kommt eine Alge zum Vorschein. „Eine Alge!“, ruft er überrascht. „Davon haben wir doch im Winterurlaub an der Ostsee ganz viele gesehen“, sagt Anna. „Ja, am Tag nach der großen Sturmflut. Dort lagen überall die Algen“, erinnert sich Lukas.

 

Felix setzt sich zu den anderen auf die Kissen und legt seine Hände schützend um die Alge. Die anderen machen es ihm nach. Mittlerweile kennen die Kinder dieses Gefühl zu gut, das sich in ihnen ausbreitet, wenn der Glitzerstaub gemeinsam mit der Wärme ein helles Licht entstehen lässt. Und doch fühlt es sich jedes mal einmalig an.

 

Ein Bild erscheint an der Wand. „Das war ja an dem Tag nach der großen Sturmflut. Wahnsinn, wie es da aussieht! Bis wohin die Algen am Strand verteilt wurden!“, ruft Felix. „Wisst ihr noch, wie die Wellen bereits am Tag vorher immer höher und stärker wurden? Wir sind doch auf dem Wellenbrecher im Meer herum geklettert. Und innerhalb einer Stunde waren die Hälfte der Steine im Wasser verschwunden“, sagt Lukas sehr aufgeregt von der Erinnerung. „Das Wasser ist enorm angestiegen an dem Tag. Auf den Wegen, an denen wir tagsüber noch gelaufen sind, war nachts das Meer“, erinnert sich Anna. „Papa war ja abends noch einmal nachsehen. Gegen Mitternacht waren die Wellen bis zur sechsten Treppenstufe am Deich … und es waren nur acht Stufen“, erzählt Felix weiter. „Es war ganz schön knapp. Viel hätte nicht mehr gefehlt und die Ostsee wäre vor unserer Tür gewesen“, überlegt Anna. „Es war wirklich Glück, das es nicht so weit gekommen ist. Aber in gewisser Weise war es auch ein sehr spannendes Abenteuer“, findet Lukas. Bei diesen Worten verschwindet das Bild von der Wand.

 

„Die Macht der Natur ist einmalig. Und die Menschen können gar nicht viel dagegen machen“, sagt Nepomuk sichtlich beeindruckt von diesen Erinnerungen. „Genau wie das Leben. Es gibt immer mal Situationen, an denen man nichts ändern kann. Wenn zum Beispiel einer in der Familie krank wird. Da kann niemand etwas dran ändern. Man darf nur nie aufhören zu hoffen! Und füreinander da zu sein“, sagt Felix. „Alles im Leben hat irgendeinen Sinn – auch wenn man ihn in dem Moment nicht versteht“, sagt Nepomuk. „Vergesst nie: egal, was um dich herum passiert. Es ist immer wichtig zusammen zu halten! Mit seiner Familie und besonders mit seinen Freunden. Gerade wenn es mal nicht so gut läuft, sind Freunde und die Familie das allerwichtigste“, weiß Heinzi. „Da bin ich aber wirklich froh, dass wir so einen tollen Zusammenhalt haben. Ich weiß, dass mir immer jemand zur Seite steht“, ist Anna überzeugt. „Das ist ein gutes Gefühl“, ergänzt Felix.

 

Nachdenklich gehen die Kinder nach dieser Erkenntnis zu ihrer Mama in die Küche. „Was schaut ihr denn so nachdenklich?“ Ist etwas passiert?“, will Mama wissen. „Nein, es ist alles gut. Wir haben festgestellt, das wir wirklich ganz viel Glück haben. Denn wir haben alle das Gefühl, dass uns immer jemand zur Seite steht, wenn es mal nicht so gut läuft“, erklärt Lukas. „Das ist ein gutes Gefühl“, weiß Mama. „Aber … läuft es denn derzeit nicht gut?“ „Doch, es ist wirklich alles bestens! Nur wissen wir unser Glück oft gar nicht zu schätzen“, sagt Felix. „Ihr seid in den letzten Tagen so anders als sonst. Woran liegt das?“, überlegt Mama. „Wir entdecken in dieser Adventszeit die wichtigen Werte auf eine ganz besondere Weise neu. Und dabei haben wir festgestellt, dass es nicht darauf ankommt, das größte Geschenk zu bekommen. Sondern das es wichtig ist, Familie und Freunde zu haben, mit offenen Augen durch die Natur zu gehen, mehr Dankbarkeit zu zeigen, gemeinsame Zeit zu verbringen und sich gemeinsam daran zu erinnern. Außerdem ist jeder auf seine Art ganz besonders“, zählt Anna auf. „Ihr überrascht mich immer wieder. Ich habe zwar keine Ahnung, wie ihr die Werte neu entdeckt, aber ich bin absolut begeistert davon!“, sagt Mama. „Du musst auch nicht alles wissen“, sagt Lukas augenzwinkernd.

Nepomuk und Heinzi haben das Gespräch mitbekommen und sehen sich an. „Das haben die Kinder gerade wunderbar erzählt. In gewisser Weise glaube ich auch, dass die Mama sich auch auf die Advents-Söckchen einlassen würde. Aber das Geheimnis macht den Kindern scheinbar auch Spaß“, sagt Heinzi. „Ich bin gespannt, was der Weihnachtsmann dazu sagt“, meint Nepomuk, bevor sie sich auf den Weg zu ihm machen.

 

Heinzi und Nepomuk packen erneut viele Geschenke ein und beschriften sie mit ihrem goldenen Stift. Sie sind so vertieft in ihre Arbeit, dass sie den Weihnachtsmann gar nicht gehört haben, der auf einmal hinter ihnen steht. „Wie ich mitbekommen habe, haben Felix, Lukas und Anna ihrer Mama von den neu erfahrenen Werten der Adventszeit erzählt, ohne ihr Geheimnis zu verraten. Ich bin wahnsinnig stolz auf die Kinder!“, sagt der Weihnachtsmann. „Das haben sie wirklich super gemacht“, stimmt Nepomuk zu. „Ich bin mir sicher, dass die Kinder bereit für den nächsten Schritt sind, Nepomuk“, sagt der Weihnachtsmann augenzwinkernd zu seinem Wichtel. „Jetzt schon? So früh habe ich das bisher bei keinem Kind erlebt“, wundert sich Nepomuk. „Die drei sind ein wunderbares Team. Gemeinsam haben sie in kurzer Zeit sehr viel wichtiges erfahren und gelernt. Ich weiß, dass jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen ist“, sagt der Weihnachtsmann bestimmt. „Was heißt das?“, möchte Heinzi wissen, der momentan gar nichts versteht. „Das heißt, das ihr das Advents-Söckchen für Lukas so vorbereitet wie immer, aber das die Wirkung ein wenig anders sein wird“, sagt der Weihnachtsmann geheimnisvoll. Mit diesen Worten geht er weiter. „Nepomuk, was heißt das denn jetzt?“, fragt Heinzi noch mal. „Du wirst morgen auf eine andere Reise gehen. Und es wird dir auf jeden Fall gefallen. Lass dich überraschen“, erwidert Nepomuk.

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